Geschäftsbericht 2010 für die Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg

Datum: 17.02.2011

Kurzbeschreibung: 

1. Die konjunkturelle Erholung nach der Wirtschaftskrise schlägt sich in sinkenden Eingangszahlen bei den Arbeitsgerichten erster Instanz nieder

2. Beim Landesarbeitsgericht ist ein Verfahrensanstieg von knapp 10 % zu verzeichnen

3. Interessante Verfahren in der Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg im Jahr 2010


1. Arbeitsgerichte

Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hat sich bei den Arbeitsgerichten erster Instanz im Jahr 2010 in sinkenden Eingangszahlen niedergeschlagen. Im Jahr 2008 gingen 48.649 Verfahren bei den Arbeitsgerichten ein. Im Jahr 2009 stiegen die Verfahrenseingänge aufgrund der Wirtschaftskrise um 21 % an; insgesamt gingen 58.952 Verfahren ein. Auf der Grundlage des in der Justiz angewandten Personalbemessungssystems bedeutete dies eine Überlastung um rd. 15 %. Ende des Jahres 2010 waren 47.794 Verfahren zu verzeichnen.

Dank der unerwartet schnellen Erholung der deutschen Wirtschaft, der gesetzlichen Regelungen zur Kurzarbeit, dem kooperativen Verhalten von Arbeitgebern und Betriebsräten und der umsichtigen Tarifpolitik konnte die Krise auf dem Arbeitsmarkt überraschend schnell überwunden werden. Ein Personalabbau in großem Umfang mit einer erheblichen Zahl von Kündigungsschutzklagen blieb aus. Bereits Anfang des Jahres 2010 schlug sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in deutlich sinkenden Verfahrenseingängen nieder. Während noch im Dezember 2009 ein Verfahrenseingang von 5.034 Verfahren festzustellen war (bei normaler Auslastung beläuft sich der Monatseingang auf rund 4.000 Verfahren), schwankten die Eingänge bei den Arbeitsgerichten erster Instanz im Jahr 2010 zwischen 3.518 und 4.608. Damit entsprach der Verfahrenseingang nahezu der Situation vor der Wirtschaftskrise.

Die Verfahrenseingänge bei den Arbeitsgerichten erster Instanz haben sich somit erneut als ein Spiegelbild der Konjunktur erwiesen. Sollte sich der moderate Klageeingang im Jahr 2011 fortsetzen, so sind die Arbeitsgerichte in der Lage, den für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer sehr wichtigen Rechtsschutz in angemessener Zeit zu gewährleisten. Die durchschnittliche Verfahrensdauer war mit 3,4 Monaten erneut bemerkenswert kurz. Die im Jahr 2009 aufgelaufenen Bestände konnten während des Jahres 2010 wieder abgearbeitet werden. Während Ende des Jahres 2009 noch 15.901 Verfahren unerledigt waren, betrug die Zahl Ende des Jahres 2010 nur noch 13.332. Sie lag damit etwas unter dem Bestand des Jahres 2008  mit 13.938 Verfahren.

2. Landesarbeitsgericht

Beim Landesarbeitsgericht hatte sich die Wirtschaftskrise im Jahr 2009 wegen der mit den Rechtsmittelverfahren verbundenen Zeitverzögerung noch nicht bemerkbar gemacht. Nachdem im Jahr 2008 2.825 Rechtsmittelverfahren angefallen waren, gingen im Jahr 2009 insgesamt 2.811 Rechtsmittel beim Landesarbeitsgericht ein. Im Jahr 2010 schlug sich die Wirtschaftskrise zeitversetzt auch beim Landesarbeitsgericht nieder. Insgesamt gingen 2.114 Urteilsverfahren, 147 Beschwerden in Beschlussverfahren und 803 sonstige Beschwerden, also insgesamt 3.064 Rechtsmittelverfahren ein. Dies entspricht einem Anstieg um knapp 10 %. Was die Zahl der unerledigten Verfahren betrifft, so stieg der Bestand seit dem Jahr 2008 nicht an. Im Jahr 2008 betrug die Zahl der unerledigten Verfahren 1.133, im Jahr 2009 1.193 und im Jahr 2010 nun 1.140.
 Trotz des knapp 10 %-igen Verfahrensanstiegs ist die Situation beim Landesarbeitsgericht insgesamt nicht besorgniserregend. Zwar sind die Stuttgarter Kammern des Landesarbeitsgerichts derzeit überproportional stark im Vergleich zu den Standorten in Freiburg und Mannheim belastet, u.a. durch ein Massenverfahren aus einem Großunternehmen (dazu 3.d). Durch einen Binnenausgleich wird diese Schieflage im Jahr 2011 bereinigt werden.

3. Interessante Verfahren aus dem Jahr 2010

Auch im Jahr 2010 wurden bei den Arbeitsgerichten und beim Landesarbeitsgericht zahlreiche interessante, zum Teil öffentlichkeitswirksame Verfahren verhandelt. Die nachfolgende Übersicht stellt einen Ausschnitt dar.

a) Kündigung wegen Bagatelldelikten

Im Jahr 2009 hatte der vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschiedene „Emmely-Fall“ in der Öffentlichkeit zu einer intensiven Diskussion geführt. In der Arbeitsgerichtsbarkeit des Landes waren im Jahr 2010 ähnliche Fälle anhängig. Im „Kinderreisebett-Fall“ (Mitnahme eines zur Entsorgung bestimmten Kinderreisebettes) entschied das Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 10. Februar 2010 (13 Sa 59/09), dass die Kündigung wegen des langjährigen Arbeitsverhältnisses und des fehlenden wirtschaftlichen Werts der Sache rechtsunwirksam sei. Im sogenannten „Maultaschen-Fall“ (Diebstahl von sechs Maultaschen) einigten sich die Parteien in der Berufungsverhandlung vor dem Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Kammern Freiburg, am 30. März 2010 (9 Sa 75/09) auf ein Ausscheiden der Arbeitnehmerin gegen Zahlung einer Sozialabfindung. Schließlich entschied das Arbeitsgericht Reutlingen im „Essensmarken-Fall“ (Verwendung einer auf den Namen eines Arbeitskollegen ausgestellten Essensmarke im Wert von € 0,80 für die Bezahlung des Mittagessens der Lebensgefährtin) mit Urteil vom 10. Mai 2010 (2 Ca 601/09), dass der Ausspruch der Kündigung ohne vorherige Abmahnung unwirksam sei. Gegen dieses Urteil legte der Arbeitgeber beim Landesarbeitsgericht Berufung ein. Im Laufe des Berufungsverfahrens einigten sich die Parteien außergerichtlich.

Im „Emmely-Fall“ hat das Bundesarbeitsgericht mittlerweile mit Urteil vom 10. Juni 2010 (2 AZR 541/09) entschieden, dass es für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung von erheblicher Bedeutung sein könne, wie lange eine ungestörte Vertrauensbeziehung zwischen den Arbeitsvertragsparteien bestanden habe. Bei einer - im konkreten Fall über 30 Jahre - langen Betriebszugehörigkeit sei trotz des Pflichtenverstoßes der Arbeitnehmerin vor Ausspruch einer Kündigung eine Abmahnung erforderlich.

b) Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft („Ossi-Fall“)

Die aus der ehemaligen DDR (Ost-Berlin) stammende und vor der Wende in die Bundesrepublik übergesiedelte Klägerin machte gegenüber einem in Stuttgart ansässigen Unternehmen die Zahlung einer Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geltend. Sie hatte sich im Juli 2009 erfolglos auf ein Stellenangebot beworben. Auf dem zurückgesandten Lebenslauf befand sich u.a. der Vermerk „(-) OSSI“.

Mit Urteil vom 15. April 2010 (17 Ca 8907/09) entschied das Arbeitsgericht Stuttgart, dass die Bezeichnung als „Ossi“ zwar als diskriminierend empfunden werden könne, jedoch nicht das Merkmal der ethnischen Herkunft im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erfülle. Die Klage wurde daher abgewiesen. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin beim Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Berufung ein (Az.: 8 Sa 31/10). Der Rechtsstreit wurde von den Parteien außerhalb einer mündlichen Verhandlung durch einen Vergleich beendet.

c) Kein Abbruch der Betriebsratswahl bei einem Unternehmen der Automobilindustrie

Kurz vor der auf den 10. März 2010 angesetzten Betriebsratswahl in einem Unternehmen der Automobilindustrie beantragte eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der der Wahlvorstand zum Abbruch der Betriebsratswahl verpflichtet werden sollte. Nach Auffassung der antragstellenden Gewerkschaft war im Laufe des Wahlverfahrens ein gravierender Verstoß gegen die Wahlvorschriften aufgetreten, weil eine größere Gruppe von Arbeitnehmern zu Unrecht als Leitende Angestellte eingeordnet und von der Wahl ausgeschlossen worden sei, gleichzeitig aber die Anzahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder zu hoch bemessen worden sei. Mit Beschluss vom 5. März 2010 (16 BVGa 9/10) gab das Arbeitsgericht Stuttgart dem Antrag statt.

Auf die Beschwerden des Arbeitgebers und des Wahlvorstands entschied das Landesarbeitsgericht am Vorabend der Wahl nach mehrstündiger Verhandlung, dass die Betriebsratswahl nicht abgebrochen werden müsse (Beschluss vom 9. März 2010 - 15 TaBVGa 1/10). Zur Begründung führte das Landesarbeitsgericht an, der Abbruch einer laufenden Betriebsratswahl im Wege der einstweiligen Verfügung setze voraus, dass für das Gericht die Nichtigkeit der vorgesehenen Wahl zuverlässig feststellbar sei. Dies sei nur bei groben und offensichtlichen Verstößen gegen wesentliche gesetzliche Wahlvorschriften der Fall. Im konkreten Fall könne ein derartiger Verstoß nicht festgestellt werden.

d) Betriebsrentenanpassung nach § 16 des Betriebsrentengesetzes

In zahlreichen von Betriebsrentnern gegen ein Großunternehmen geführten Verfahren stritten die Parteien darüber, auf welche Weise die Anpassung der Betriebsrenten nach § 16 des Betriebsrentengesetzes vorzunehmen sei. Im Mittelpunkt stand hierbei die Rechtsfrage, für welchen Prüfungszeitraum das Unternehmen die sogenannte Reallohnermittlung durchzuführen habe. Mit Urteilen vom 26. März 2010 (z.B. 7 Sa 68/09) und vielen weiteren Entscheidungen aller Stuttgarter Kammern gab das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg den Betriebsrentnern Recht. Es hielt den vom Unternehmen gewählten Prüfungszeitraum (nur der letzten drei Jahre) für nicht zutreffend. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht ließ das Landesarbeitsgericht nicht zu, weil die Rechtsfrage durch das Bundesarbeitsgericht bereits geklärt sei.

Gegen diese Urteile legte das Unternehmen beim Bundesarbeitsgericht sogenannte Nichtzulassungsbeschwerden ein, um die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage zu erreichen. Mit Beschlüssen vom 31. August 2010 und weiteren Entscheidungen wies das Bundesarbeitsgericht die Nichtzulassungsbeschwerden zurück. Damit wurden die Urteile des Landesarbeitsgerichts rechtskräftig. Das Unternehmen legte sodann im Oktober 2010 Verfassungsbeschwerde gegen eine der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts ein, nahm diese jedoch im Dezember 2010 wieder zurück.

Ungeachtet der rechtskräftigen Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts sind immer noch mehrere hundert Verfahren zwischen dem Unternehmen und den Betriebsrentnern beim Arbeitsgericht Stuttgart und beim Landesarbeitsgericht anhängig, bei denen es weitgehend um dieselbe Rechtsfrage geht.  In der Presse ist bereits kritisiert worden, dass sich jeder einzelne der zahlreichen Betriebsrentner des Unternehmens trotz der mittlerweile vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts sein Recht erstreiten müsse. Aus Rechtsgründen kann zwar nichts dagegen eingewandt werden, wenn das Unternehmen an seiner Rechtsauffassung festhält. Es ist allerdings zu bedenken, dass Rechtsprechung ein knappes Gut ist. Die Gerichte verfügen nur über beschränkte Personalressourcen. Die Arbeitskapazität, die für die Bearbeitung der auch rechnerisch schwierigen Betriebsrentenfälle eingesetzt werden muss, fehlt an anderer Stelle. Die Leidtragenden der Strategie des Unternehmens sind die anderen Parteien, deren Verfahren wegen der Betriebsrentenfälle weniger zügig bearbeitet werden können.


Dr. Eberhard Natter
Präsident des Landesarbeitsgerichts

 

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